18.07.2022
Dr. Jürgen Zehetmaier (Mitglied des Vorstands der msg systems ag) im Interview mit versicherungsbetriebe.de
Lange Zeit wurde über die Kriterien Environment, Social und Governance (ESG) nur im Kontext von Regulatorik gesprochen. Tatsächlich gewinnt diese im Zuge der immer neuen Gesetzesinitiativen zunehmend an Bedeutung, wird umfassender und konkreter. Wie wichtig ESG tatsächlich ist, warum die systematische Integration in die eigene Unternehmensstrategie nicht nur regulatorisch notwendig, sondern ein kritischer Wettbewerbsfaktor gerade für Versicherungen ist und welche Rolle die IT dabei spielt, erklärt Dr. Jürgen Zehetmaier, Vorstandsmitglied von msg und verantwortlich für das Versicherungsgeschäft, im Interview.
Woher kommt das hohe Steuerungspotenzial der Versicherer beim Thema Nachhaltigkeit?
Dr. Jürgen Zehetmaier: Die wichtigste Frage für Investoren lautet natürlich: Wo lege ich mein Geld an? Die deutschen Versicherer haben im Jahr 2019 insgesamt 1.750 Milliarden Euro investiert, was in etwa der Hälfte des Bruttoninlandsprodukts von Deutschland entspricht. Das ist eine enorme Summe, die auf dem Markt wirklich etwas bewegen kann. Nachhaltige Betriebe oder Produkte wie etwa erneuerbare Energien können so einige Schritte weitergebracht werden. Allerdings haben Versicherer lediglich 0,3 Prozent ihres Kapitals in erneuerbare Energien investiert. Wir hören aber von unseren Kunden aus der Branche, dass sie und viele weitere Versicherer sich verpflichtet haben, nicht mehr in Unternehmen mit Umsatzanteilen aus etwa fossilen Brennstoffen zu investieren. Und mit der Selbstverpflichtung des GDV, dass alle Kapitalanlagen von Versicherern bis 2050 klimaneutral sein sollen, ist davon auszugehen, dass immer mehr Versicherer auf dieses Ziel hinsteuern werden. Und das ist auch für das Marktsteuerungspotenzial der Versicherer wichtig: Mit solchen Zielen investieren Versicherer nicht nur „grüner“, sondern sie bieten auch einen Ansporn für andere Unternehmen, beispielsweise in den Nachhaltigkeitsbestrebungen.
Verstanden. Wie steht es denn um die Produktentwicklung bei Versicherern selbst?
Dr. Jürgen Zehetmaier: Wir beobachten, dass nicht nur ganz deutlich die Nachfrage nach nachhaltigen Versicherungsprodukten steigt, sondern dass die deutschen Versicherer absolut gewillt sind, solche Produkte zu fördern. Nur als Beispiel: Die gesamte Branche hat es sich zum Ziel gesetzt, nachhaltige Versicherungen wie Wartungen, Reparaturen oder Pay-as-you-drive-Modelle bei Kfz-Versicherungen zu fördern. Dort besteht nicht nur eine hohe Nachfrage, sondern Versicherer können auch Anreize für Versicherungsnehmer schaffen, schonender mit den eigenen Ressourcen umzugehen. Gleichzeitig müssen Versicherer das Risikomanagement genau im Auge behalten. Der Klimawandel birgt neben den offensichtlichen und verheerenden gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen nochmal eigene Risiken für Versicherer, wie den Anstieg von Häufigkeit und Schwere von Extremwetterereignissen.
Sie sprachen bereits an, dass Versicherungsunternehmen auch auf den eigenen Betrieb achten müssen. Was genau meinen Sie damit?
Dr. Jürgen Zehetmaier: Ganz richtig. Bisher klang es vielleicht so, als würden Versicherungsunternehmen aus dem luftleeren Raum heraus mit der echten Welt interagieren. Aber ESG-Kriterien gelten natürlich auch für den eigenen Betrieb. Das erleben wir bei msg nicht nur bei unseren Kunden aus der Versicherungsbranche, sondern ja auch bei uns selbst. Alle Unternehmen müssen sich Fragen stellen wie „Wie steht es um den CO2-Ausstoß unseres Betriebs, also Bürokomplexe, Dienstreisen, etc.?“ Antworten auf diese Fragen machen ein Umdenken oder Umstrukturieren notwendig, bringen aber auch echte Chancen mit sich. Wir haben uns beispielsweise im Bereich des Klimaschutzes dazu verpflichtet, unseren CO2-Ausstoß bis 2025 zu halbieren und bis 2030 CO2-neutral zu werden.
Welche Chancen sehen Sie in diesem Zusammenhang?
Dr. Jürgen Zehetmaier: Aus unserer Sicht stellt sich bezüglich Nachhaltigkeit nicht die Frage „Ob“, sondern lediglich „Wie“. Wir sehen ganz klar, dass durch eine strategisch gut gedachte und dann vor allem auch gut gemachte Nachhaltigkeitsstrategie neue, profitable Wachstumsfelder und neue Markt- und Kundensegmente entstehen. Mit angepassten und neuen Produkten oder Geschäftsfeldern können Unternehmen entlang der zwei wesentlichen Handlungsfelder in Bezug auf den Klimawandel wachsen. Das betrifft zum einen Fragen nach Mitigationsmaßnahmen zur Reduktion von Klimagasen: Mit welchen Produkten und Produktbausteinen lässt sich die Emission von Klimagasen reduzieren oder sogar umkehren? Zum anderen geht es um die Adaptionen auf die Auswirkung des Klimawandels: Welche Deckungen sind geeignet, um die Folgen des Klimawandels besser zu bewältigen?
Wie können externe Experten Versicherern dabei helfen?
Dr. Jürgen Zehetmaier: Wir haben ja bereits darüber gesprochen, wie groß ESG ist. Und das nicht nur in puncto Relevanz. Wir sehen zwei Säulen, in denen externe Experten helfen können. Zum einen braucht es eine ganze Reihe von Spezialisten, die sich dauerhaft mit dem Thema beschäftigen und letztlich in fünf Bereichen aktiv sind: Regulatorik, Impact, Risk, Informationsmanagement und Wachstumsfelder. Und gleichzeitig braucht es intelligente Digitalisierungsmaßnahmen, smarte Produkte und Technologien, um dieses so stark datengetriebene Thema wirklich erfassen und steuern zu können.
Wie unterstützen externe Experten wie Sie Versicherer ganz konkret?
Dr. Jürgen Zehetmaier: Um bei uns als Beispiel zu bleiben: Wir arbeiten mit den größten Erst- und Rückversicherern Deutschlands zusammen und bringen viel Verständnis und die nötige Tiefe für die Branche mit – aufgrund der langjährigen Zusammenarbeit, aber auch weil viele meiner Kolleginnen und Kollegen aus der Branche kommen. Eine Beratung wie die unsere bietet nicht nur die Kompetenzen und Kapazitäten, um etwa die dringend notwendige IT-Architektur und -Applikationslandschaft auszubauen. Wir unterstützen Versicherer eben auch bei allen Fragen von Compliance über das Risikomanagement bis zur Identifikation von Wachstumsfeldern. Das kann zum Beispiel die konkrete Anwendung der Taxonomie-Verordnung sein, um für Unternehmen maßgeschneidert die dafür notwendigen Informationen aus bestehenden Daten zu identifizieren und zu extrahieren.
Sie haben gerade insbesondere das Thema Daten- und Informationsmanagement angesprochen. Wie können IT-Lösungen hierbei helfen?
Dr. Jürgen Zehetmaier: In der Tat sind Informationen aus nahezu allen Bereichen relevant. Von Finanzanlagen über Versicherungsprodukte, Betriebsabläufe, Mitarbeitende, Gebäude und Lieferanten, um ein paar Beispiele zu nennen. Viele der darin enthaltenen Informationen „gehören“ einem Unternehmen gar nicht. Andere Informationen enthalten personenbezogene Daten. In Summe benötigt man ein virtuelles Data-Warehouse, das auch Informationen über eine datensouveräne Kollaborationsplattform einbezieht. Wir betrachten ESG im Prinzip wie ein dezentrales Ökosystem mit zahlreichen Datenlieferanten und -nutzern. Auf dieses virtuelle Data-Warehouse greift dann eine „ESG-Engine“ zu – und erlaubt Modellierungen, Simulationen und Szenarienrechnungen. Die Engine muss in der Lage sein, mit großen Datenmengen umzugehen.
Das „ESG-Frontend“ liefert Dashboards sowie teil- beziehungsweise idealerweise vollautomatisierte Reports und erlaubt so eine strategische Steuerung des eigenen ESG-Impacts wie auch des ESG-Risikos. Es ist erkennbar, dass einfache Tabellenprogramme nicht geeignet sind, diese Aufgaben effektiv und effizient zu bewältigen.
Wie bewerten Sie als Beratungs- und IT-Unternehmen ESG für die Versicherungsbranche in den nächsten fünf Jahren?
Dr. Jürgen Zehetmaier: Es ist ein Megatrend, der gekommen ist, um zu bleiben. Ganz klar wird neben dem nicht-regulatorischen Druck von außen auch die Regulatorik selbst insbesondere in den sozialen und Governance-Bereichen ausgeweitet werden. Das Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz, das Umwelt- und Menschenrechtsschutz vereint, ist nur ein Vorläufer. Wir unterstützen bereits jetzt einige unserer Kunden mit strategischen Roadmaps und vor allem deren Umsetzung dabei, sich auf neue Regulationen in Bezug auf ESG vorzubereiten und technisch zukunftsfähig aufzustellen. Damit sind sie heute Vorreiter und sparen sich die hektische Arbeit, wenn die Vorschriften dann eintreffen – und können sich stattdessen auf nachhaltiges Wachstum fokussieren.