12.07.2022
Dr. Jürgen Zehetmaier (Mitglied des Vorstands der msg systems ag) im Interview mit versicherungsbetriebe.de
Lange Zeit wurde über die Kriterien Environment, Social und Governance (ESG) nur im Kontext von Regulatorik gesprochen. Tatsächlich gewinnt diese im Zuge der immer neuen Gesetzesinitiativen zunehmend an Bedeutung, wird umfassender und konkreter. Wie wichtig ESG tatsächlich ist, warum die systematische Integration in die eigene Unternehmensstrategie nicht nur regulatorisch notwendig, sondern ein kritischer Wettbewerbsfaktor gerade für Versicherungen ist und welche Rolle die IT dabei spielt, erklärt Dr. Jürgen Zehetmaier, Vorstandsmitglied von msg und verantwortlich für das Versicherungsgeschäft, im Interview.
Herr Zehetmaier, warum ist ESG für Sie als IT- und Beratungshaus ein so wichtiges Thema?
Dr. Jürgen Zehetmaier: Aus unserer Perspektive ist Nachhaltigkeit nicht nur wichtig, sondern essenziell. Wir sind sicher, dass uns dieses Thema gemeinsam mit der Digitalisierung die nächsten Jahre begleiten wird. Also als etwas, das uns nachhaltig und langfristig auf allen Ebenen der Gesellschaft beeinflusst – sowohl Individuen als auch Institutionen und Unternehmen. Dabei ist Nachhaltigkeit deutlich komplexer, als es auf den ersten Blick scheint. Klar denkt man bei Nachhaltigkeit zunächst an Klimaschutz, den schonenden Umgang mit Ressourcen oder den Einsatz erneuerbarer Energien. Genauso zählen allerdings gerechte Arbeitsbedingungen über die gesamte Wertschöpfungskette hinweg oder eine ethisch vertretbare Unternehmensführung zu Nachhaltigkeit. Die Kriterien Environment, Social und Governance (ESG) greifen diese zahlreichen Handlungsfelder auf und bilden die Grundlage vieler Nachhaltigkeitsberichte und Nachhaltigkeitsratings von Unternehmen, die etwa von Investoren bei der Entscheidung für oder gegen bestimmte Kapitalanlagen herangezogen werden.
Und genau hier beginnt es interessant zu werden: Wir sehen zum einen die steigenden regulatorischen, also gesetzlichen Vorgaben zur Einhaltung bestimmter ESG-Kriterien. Unternehmen haben hier gar nicht die Wahl, ob sie sich mit dem Thema auseinandersetzen möchten oder nicht. Sie müssen es schlichtweg tun. Und mit Vorgaben wie dem Lieferkettensorgfaltspflichtgesetz zeichnet sich ab, dass weitere konkrete Vorschriften aus den Bereichen Social und Governance folgen werden, während wir etwa durch die EU-Taxonomie bereits heute konkrete Anforderungen an den Umweltschutz haben.
Gleichzeitig steigt aber auch der nicht-regulatorische Druck von außen. Nachhaltigkeit nicht nur zu proklamieren, sondern ernst- und sinnhaft in der eigenen Unternehmensstrategie zu verankern, stärkt die Bindung an eine Marke sowie die Bindung von Mitarbeitenden an ein Unternehmen und damit den langfristigen Unternehmenserfolg.
In der Tat ein spannendes Feld, aber bleiben wir zunächst bei der bestehenden Regulatorik. Die EU-Taxonomie benennt sechs Ziele für ökologisch nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten. Was heißt das konkret für Unternehmen und vielleicht auch speziell für Versicherungsunternehmen?
Dr. Jürgen Zehetmaier: Die sechs Ziele der EU-Taxonomie sind der Klimaschutz, die Anpassung an den Klimawandel, die nachhaltige Nutzung und der Schutz von Wasser- und Meeresressourcen, der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft, die Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung sowie der Schutz und die Wiederherstellung der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme. Nachhaltig im Sinne der EU-Taxonomie-Verordnung handelt ein Unternehmen dann, wenn es eines der sechs Ziele wesentlich fördert, ohne dabei einem anderen zu schaden. Allein das ist in unserer hochkomplexen Wirtschaft mit ellenlangen Lieferketten eine sehr herausfordernde Aufgabe. Denn dafür müssen Unternehmen zunächst durchdringen, welche Maßnahmen überhaupt gesetzlich gefordert sind – abhängig von der Aufstellung des Unternehmens und dessen Portfolio. Und natürlich muss dann die Frage nach den verantwortlichen Funktionen im Unternehmen und Kontrollmechanismen geklärt werden. Die Komplexität der Regulatorik wird in der Versicherungsbranche, aber auch in der Bankenbranche besonders sichtbar, da hier zahlreiche unterschiedliche Gesetzgebungen aufeinandertreffen. Je nach spezifischer Geschäftstätigkeit der Unternehmen sind diese wiederum unterschiedlich. Und wenn mit der Zeit noch weitere obligatorische Nachhaltigkeitskriterien mit jeweils eigenen, umfassenden Gesetzgebungen hinzukommen, wird es schnell sehr komplex.
Was müssen die Unternehmen bei der Umsetzung beachten?
Dr. Jürgen Zehetmaier: Man sollte als Unternehmen nur das behaupten, was man auch transparent beweisen kann. Dafür gibt es auch eine Berichtspflicht, wie etwa in der Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD) vorgeschrieben, die in den kommenden Jahren aller Voraussicht nach für alle europäischen Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden gelten wird. Genau hier setzen wir an. Wer ESG-Anforderungen umsetzt, muss akzeptieren, dass es sich um ein in hohem Maß datengetriebenes Thema handelt. Die große Herausforderung besteht darin, angemessene Strukturen und Prozesse zur Datenerfassung und -analyse zu schaffen. So kann die nötige Transparenz sichergestellt und ESG zielführend gesteuert werden. Denn aus der Datenflut, die aus der Gesamtheit des wirtschaftlichen Handelns eines Unternehmens entsteht, müssen konkrete Erkenntnisse gefiltert werden. Gerade bei unseren Kunden aus der Versicherungsbranche erleben wir, wie sich diese sowieso „Big-Data-würdige“ Datenmenge noch vervielfacht. Gleichzeitig sind die Themen so komplex, dass Unternehmen sich kontinuierlich weiter mit neuen Regularien und dem eigenen Tun auseinandersetzen müssen. Dafür bedarf es vieler Expertinnen und Experten, die Unternehmen stetig weiterbilden müssen – und das sind nicht nur Personen mit juristischer Ausbildung, die die Regulatorik häufig nicht nur verstehen, sondern auch konkret interpretieren und für das jeweilige Unternehmen auslegen müssen. Wir bei msg haben dafür beispielsweise ein spezielles Team gebildet, das sich kontinuierlich genau mit diesen Themen befasst.
Das müssen Sie bitte näher erklären. Warum benötigen Versicherer große Datenmengen, wenn es um Nachhaltigkeitsberichte geht?
Dr. Jürgen Zehetmaier: Um Erkenntnisse über das eigene Tun („ESG-Impact“) und die Exponierung des eigenen Unternehmens („ESG-Risiko“) in puncto Nachhaltigkeit zu erhalten, müssen Informationen aus vielen unterschiedlichen Quellen und Systemen zusammengetragen werden. Versicherer müssen beispielsweise Daten zu ihrem ESG-Impact aus verschiedenen Bereichen mit allen dazugehörigen Datentöpfen ziehen. Das sind vor allem die eigenen Produkte, also welche Versicherungen entwickelt und angeboten werden, der eigene Betrieb inklusive Lieferketten und IT, sowie – da Versicherer deutschlandweit zu den größten Investoren gehören – die Daten aus allen Kapitalanlagen. Aufgrund der Vielzahl der Datenquellen und -töpfe sollte die Datensammlung unbedingt koordiniert und über eine technische Lösung erfolgen – unter Wahrung der Datensouveränität, insbesondere im Zusammenhang mit Lieferketten. Die Lösung muss holistisch als „single source of information“ alle relevanten Daten zusammenführen und für die verschiedenen Verwendungszwecke, wie die Berichterstattung oder die operative und strategische Steuerung, aufbereiten. Obgleich Versicherer also offenkundig willens sind, wie die eigenen Zielsetzungen zeigen, schöpfen sie ihr hohes Steuerungspotenzial beim Thema Nachhaltigkeit bisher noch nicht vollumfänglich aus.